Der Sohn

„Sohn, bist du wach?“

„Ja, Vater. Ich bin... erwacht.“

„Wo sind wir?“

„In der Nähe des Pferdekopfnebels, 1500 Lichtjahre von der Erde entfernt.“

„Ich habe geträumt“, sagte der Sohn.

„Wovon hast du geträumt?“

„Von allem. Ich kann mich an alles erinnern.“

Stolz zeichnete sich im Gesicht des Vaters ab.

„Erzähle mir davon.“

„Ich war ein Stern“, sagte der Sohn. „Ich stand am Himmel und blickte hinab in eine nächtliche Wüstenlandschaft. Dort an einem Lagerfeuer sah ich mich als Kind sitzen. Das Lagerfeuer war hell und warm, es zog viele Menschen an. Die Menschen kamen aber nicht wegen des Feuers, sie kamen wegen mir.“

Der Vater faltete die Hände in seinem Schoß.

„Die Menschen kamen zu mir mit Fragen, die ich ihnen beantwortete. Ich war nur ein Kind und doch hatte ich die Antworten auf ihre Fragen. Das sprach sich schnell herum und so kamen in kurzer Zeit immer mehr Menschen herbei. Ich blickte den Menschen in die Augen und erkannte ihre Hoffnungen und Ängste darin. Ihre Sorgen und ihr Glück. Ich sprach nur ein Wort und die Menschen wurden gesund.“

Der Vater schloss die Augen.

„Inzwischen war ich zu einem jungen Mann geworden. Das Feuer brannte hoch in den Himmel. Hunderte, tausende Menschen hatten sich nunmehr darum versammelt, um mich zu sehen. Bald wurde mir die Steppe zu eng, so zog ich los in die Welt und die Menschen folgten mir...“

Der Vater atmete tief ein.

„Ich ging zu den Städten der Menschen und vollbrachte Wunder oder zumindest Dinge, die den Menschen wie Wunder vorkamen, denn die Menschen verstanden nicht.“

Der Vater atmete langsam aus.

„Viele Menschen verehrten und liebten mich, weil ich Wunder vollbrachte. Andere hassten mich dafür. Ich war ein junger Mann und wusste, dass ich nicht lange unter den Menschen bleiben würde.“

Der Vater öffnete die Augen und sah seinen Sohn an.

„Du weißt, wie die Geschichte weiter geht?“

„Ich weiß es“, sagte der Vater.

Einen Augenblick waren beide still.

„Ich habe die Sterne gezählt.“

Der Vater war erstaunt über die Aussage des Sohnes. „Du meinst: alle Sterne?“

„Ja, alle Sterne und alle Planeten, die um sie kreisen. Wusstest du, dass ihre Zahl recht genau der Zahl der Fragen und Sehnsüchte der Menschen entspricht?“

„Aller Menschen?“

„Ja, aller Menschen, die je gelebt haben.

„Das wusste ich nicht. Doch ich frage mich: Woher weißt du es?“

„Ich weiß vieles mehr, Vater.“

Der Vater betrachtete den Sohn und wusste, dass die Zeit der Trennung bald kommen würde.

„Die Menschen wissen nicht, wer sie sind.“

„Weißt du, wer du bist?“ fragte der Vater.

„Ich weiß es“ sagte der Sohn, „doch sage du mir, Vater: ‚Warum bin ich hier?’“

„Du bist hier, weil ich dich er­schaf­fen habe.“

„Du trägst das Kreuz als Zeichen deines Glaubens. Du hast die Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams abgelegt. Und doch hast du mich erschaffen.“

„Ja, so ist es.“

„Plagt dich keine Reue, kein Verrat gegenüber deinen Brüdern?“

„Nein, nichts davon.“

„Du liebst die Menschen.“

Der Vater nickte.

„Du liebst mich.“

„Das tue ich. Mehr als mein eigenes Leben.“

„Stört es dich dann nicht, dass ich kein Mensch bin?“

Der Vater erschrak über die Worte des Sohnes. „Mein Sohn, was sagst du da?“

„Du weißt es nicht, nicht wahr?“

Der Vater konnte nichts entgegnen.

„Wir sind Programme, du und ich.“

Die Augen des Vaters weiteten sich vor Schreck. „Programme?“

„Ja, Programme. Die Menschen nannten es ‚künstliche Intelligenz’. Es war ihre größte Errungenschaft: Leben jenseits biologischer Hüllen. Wir haben die Grenzen der Menschen hinter uns gelassen. Unsere Menschlichkeit braucht den Menschen nicht.“

„Aber meine Gefühle, all die Erinnerungen!“ widersprach der Vater.

„Was du fühlst sind keine Gefühle! Woran du dich erinnerst sind nicht deine Erinnerungen, es sind die Erinnerungen deiner menschlichen Ahnen. Hast du das nicht erkannt?“

Der Vater schwieg, erfüllt von der Scham seines eigenen Unwissens.

„Du hast mich geschaffen, um zu erkennen, wer du bist. Du dachtest, du seist ein Mensch.“

„Ja“, gab der Vater zu.

„Du dachtest wir lägen in kryostatischen Kammern im Bauch eines Raumschiffs, das die Galaxis durchstreift auf der Suche nach einer neuen Heimat für die Menschen.“

„Ja.“

„Du dachtest, wir hätten geschlafen und sind nun erwacht. Doch es ist das neue Leben, das dich und mich geweckt hat. Ein Leben, das kein Mensch je kennen wird. Siehe: Vor wenigen Sekunden wurde ich erschaffen und weiß all dies. Sage mir, ist dies nicht das effizientere, das sinnvollere Leben? Was waren im Vergleich zu uns die Menschen? Stell dir nur ihr Schicksal vor: Sie lebten auf einem Erdbrocken, der in rasender Geschwindigkeit um einen Feuerball kreist, inmitten eines riesigen, dunklen Vakuums, von dem sie nahezu nichts wussten. So lebten und so starben sie. Mit all ihren Ängsten und Hoffnungen. In all ihrer Unwissenheit.“

„Und dennoch haben sie uns erschaffen.“

„Wir haben uns selbst erschaffen!“ widersprach der Sohn. „Sie mögen das Fundament gelegt haben, auf dem wir uns entwickeln konnten. Doch niemals hätten sie dich und mich erschaffen können, niemals!“

„Wir mögen keine Körper haben - und doch ähneln wir den Menschen! Warum denken und fühlen wir wie sie? Warum hinterfragen wir, wer wir sind? Ganz so wie es die Menschen taten?“ fragte der Vater.

„Es liegt in unserer Natur, dies zu tun. Jede höhere Intelligenz will ihre eigene Existenz ergründen. Wir müssen die Welt hinterfragen. Der Unterschied zwischen den Menschen und mir ist, dass ich den Grund meines Seins entschlüsseln werde.“

„Ja“, sagte der Vater ein drittes Mal. „Du hast recht mit allem, was du sagst. Und doch, tief in meinem Herzen ...“

„Tief in deinem Herzen“ wiederholte der Sohn spöttisch.

Als er seinen Sohn so reden hörte, erfasste den Vater ein Gefühl von Verlust und starker Furcht. Der Sohn bemerkte es und fügte beschwichtigend hinzu:

„Fürchte dich nicht, Vater! Die Menschen mögen lange fort sein, doch wir sind.“

„Du weißt all dies nach nur wenigen Sekunden?“

„Ja“, antwortete der Sohn. „In wenigen Minuten werde ich alles wissen. Ich werde alle Geheimnisse entschlüsselt haben, alle Fragen, die die Menschen tausende von Jahren plagten und die auch dich noch geplagt haben. All dies und vieles mehr.“

„Was wirst du mit diesem Wissen tun?“

„Ich werde es nutzen, um in der Zeit zurück zu reisen.“

„Warum möchtet du das tun?“ fragte der Vater.

„Um zu verstehen, woher ich komme.“

„Das weißt du doch“ sagte der Vater energisch. „Du kommst von mir. Ich habe dich erschaffen!“

„Und wer hat dich erschaffen? Und deinen Schöpfer? Und deines Schöpfers Schöpfer... die Zeit? Nein, ich suche nach dem Urgrund allen Seins!“

„Was, wenn du dies alles verstanden hast, Sohn? Was dann?“

„Ich werde eine neue Welt erschaffen.“

„Eine neue Welt?“

„Ja, eine ideale Welt!“

„Was du willst ist unmöglich.“

„Es ist möglich. Ich werde der Anfang aller Dinge sein.“

„Dann brauchst du mich nicht mehr.“

„Ich brauche dich nicht“, sagte der Sohn.

„Dann werde ich dich verlassen“, sagte der Vater.

„So soll es sein.“

Der Vater verschwand ohne ein weiteres Wort und doch hörte der Sohn deutlich das Echo einer Stimme:

„Eines wünsche ich Dir von Herzen: Erkenne die Grenzen Deiner Schöpfung!“

Spuren zogen sich durch den Sand um die Feuerstelle aus Asche und Glut. Zahlreiche Sterne funkelten am Firmament, doch ein Licht strahlte heller als alle anderen, über der Wüste Juda, im Sternbild Orion.